Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Geht nun auch in Niedersachsen der Schulstreit zu Ende?

März 2013

Es gibt 2013 nur noch wenige Bundesländer, in denen es bislang nicht gelungen ist, lager- und parteiübergreifende Kompromisse in der Schulstrukturfrage zu schließen. Während die Schulpolitik von Rheinland-Pfalz unter einer rot-grünen Regierung der oppositionellen CDU kaum Reibungsflächen bietet und die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg mit ihrer auch in CDU-regierten Kommunen boomenden Gemeinschaftsschule die Opposition zum Nachdenken zwingt, sind die Fronten in den schwarz-gelb regierten Ländern Bayern, Sachsen, Hessen und eben auch Niedersachsen in der Frage einer Reform der Schulstruktur noch verhärtet.

Zur Schulpolitik von Schwarz-Gelb seit 2003

Mit dem Amtsantritt von Schwarz-Gelb 2003 begann in Niedersachsen ein erbitterter Kampf gegen eine weitere Ausbreitung der Gesamtschule, dem Reformprojekt der SPD seit dem Ende der 1960er Jahre. Eine erste schulpolitische Maßnahme der neuen Regierung war ein Verbot, neue Gesamtschulen zu gründen. Damit wuchs allerdings der Protest im Land und mit ihm der Bedarf an Gesamtschulplätzen, was die Regierung im Wahlkampf 2007 veranlasste, für die neue Legislaturperiode eine Lockerung des Verbots in Aussicht zu stellen.

Nach der Wahl hatte die im Amt bestätigte schwarz-gelbe Regierung zwar 16 weitere Gesamtschulen genehmigt, aber nicht mehr als „gebundene“ Ganztagsschulen, mit verbindlichem Nachmittagsunterricht, sondern als „offene“ mit freiwilligen Angeboten an drei Nachmittagen in der Woche. Für das zuständige Ministerium handelte es sich bei dieser Maßnahme um die „Gleichbehandlung“ aller Schulen.

Ein weiterer Schritt zur „Gleichbehandlung“ aller Schulen erfolgte mit der Ankündigung, auch an Gesamtschulen die Schulzeit von 13 auf 12 Schuljahre zu verkürzen. Diese Änderung wurde dann schon für das Schuljahr 2010/11 beschlossen, was wiederum Proteste im ganzen Land auslöste und den Run auf die Gesamtschulen noch einmal vertärkte.

Nach den 16 Gesamtschulen für das Schuljahr 2009/10 gingen 2010/11 siebzehn weitere Gesamtschulen an den Start, trotz der weiterhin hohen Hürden vor einer Neugründung. So musste eine Gesamtschule mit mindestens 130 angemeldeten Schüler/innen, also fünfzügig beginnen, mit einer Bestandsprognose von 14 Jahren, - im Unterschied zum Gymnasium, das auch schon zweizügig starten kann. Darüber hinaus durfte eine neue Gesamtschule den Bestand vorhandener Schulen vor Ort nicht gefährden.

Nach dem Abgang von Christian Wulff als Ministerpräsident zeigte die Regierung unter David McAllister kurze Zeit Kompromissbereitschaft im Streit um die Gesamtschule. Statt fünf Zügen sollten künftig nur noch vier Züge die Voraussetzung für eine Neugründung sein und die Kommunen bei rapide schwindender Akzeptanz der Hauptschule auch nicht mehr gezwungen sein, bei einer Neugründung alle Schulen des gegliederten Systems vorzuhalten. Das hätte es vor allem auf dem Land leichter gemacht, Gesamtschulen einzurichten. Doch diese Kompromissbereitschaft scheiterte nicht zuletzt am Widerstand des Koalitionspartners FDP.

Ein letzter Schlag gegen das Vordringen der Gesamtschule, aber auch wegen der wachsenden Probleme mit der Hauptschule, war 2011 die Erfindung einer neuen Schulform: In einer „Oberschule“ sollten Haupt- und Realschule fusionieren können und diese Schule, bei ausreichender Schülerzahl, auch eine gymnasiale Oberstufe führen, also gymnasiale Standards haben wie die Gesamtschule. Das allerdings provozierte den Widerstand des konservativen Lagers innerhalb und außerhalb der Koalition. Geblieben ist zuletzt eine Oberschule, die nach 10 Schuljahren zum Mittleren Abschluss führt, spätestens nach Klasse 8 abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen bildet und ein gymnasiales Angebot in der Sekundarstufe I nur machen kann, wenn dadurch kein bestehendes Gymnasium gefährdet wird.

(V.Merkelbach: Schulstreit in Niedersachsen. http://www.valentin-merkelbach.de April 2011)

Als am 13.2.2012 das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die Klage des Landkreises Northeim gegen die hohen Hürden vor der Gründung einer Gesamtschule zurückwies, hoffte Kultusminister Althusmann, dass mit dem Urteil der Streit um die Gesamtschule nun zu Ende. In einer Pressemeldung erklärt der Minister:

Der Beschluss ist eine Bestätigung unseres Weges. Wir setzen in Niedersachsen auf Oberschulen neben unseren starken Gymnasien. Als Ergänzungsangebot können – wenn ausreichend viele Eltern dies wünschen – auf Antrag des kommunalen Schulträgers Integrierte Gesamtschulen hinzukommen. Es freut mich besonders, dass das Gericht nicht nur unsere Vorgaben für die Zügigkeiten ausdrücklich bestätigt, sondern auch die Regelung zu den Schülerzahlen und zum Prognosezeitraum von mindestens zehn Jahren. So kann die Entscheidung der kommunalen Schulträger zur Organisation des Schulwesens in ihrem Gebiet auf eine gesicherte und nachhaltige Grundlage gestellt werden.
An die Verfechter von Einheitsschulsystemen appelliere ich eindringlich und nicht zum ersten Mal, nun endlich ideologischen Schulstrukturdebatten zu beenden. Wir sollten alle gemeinsam daran arbeiten, die Rahmenbedingungen für gute Schulen in unserem Land weiter zu verbessern. (
http://bildungsklick.de/ 17.2.2012)

Das ist die Position der Regierung vor der Landtagswahl, nachdem der Versuch, auf die Opposition zuzugehen, gescheitert ist. Im „Regierungsprogramm 2013-2018 der CDU Niedersachsen“ stellt sich in der Erfolgsbilanz der Regierung der erbitterte Kampf gegen die Gesamtschule dann so dar:

 Seit 40 Jahren ergänzen Gesamtschulen in integrierter und kooperativer Form das bestehende Schulangebot. Seit 2008 wurden 36 neue Gesamtschulen genehmigt. Dort, wo ausreichend viele Eltern dies wünschen, können sie auch zukünftig eingerichtet werden. (S.34)

 Die FDP beansprucht in ihrem „Wahlprogramm“ gegenüber dem Koalitionspartner zum einen, die Oberschule initiiert zu haben und außerdem „die einzige Partei“ zu sein, „die sich uneingeschränkt und kontinuierlich“ für den Erhalt des Gymnasiums einsetze. Zum Kampf gegen die Gesamtschule, an dem die FDP maßgeblich beteiligt war und jede Kompromissbereitschaft der CDU hintertrieben hat, heißt es, dass neben Gymnasien und Oberschulen auch „an vielen Haupt-, Real- und Gesamtschulen in Niedersachsen wertvolle Bildungsarbeit geleistet“ werde und Eltern und Schüler „auf der Grundlage eines fairen Wettbewerbs zwischen den Schulformen“ entscheiden, „welches die richtige Schule für sie ist“. (S.23)

Die Opposition vor der Wahl

SPD

Auf einem Parteitag am 10.11.2012 beschloss die SPD „Das Regierungsprogramm 2013-2018“ mit einer Reihe von schulpolitischen Ankündigungen:

  • Die „förmliche Grundschulempfehlung für die weiterführende Schule“ wird abgeschafft und „nur noch in der Form eines Beratungsgesprächs mit den Eltern“ weitergeführt.

  • „Individuelle Förderung sollen Abschulungen und Sitzenbleiben ersetzen.“

  • Die „Fünfzügigkeit als Voraussetzung für Gesamtschulen“ wird abgeschafft und stattdessen Vier-, in Ausnahmefällen auch Dreizügigkeit“ zugelassen.

  • Das Abitur nach neun Jahren wird an Gesamtschulen wieder eingeführt.

  • Kooperative Gesamtschulen erhalten „die Möglichkeit zur Weiterentwicklung und zu schulzweigübergreifender Arbeit“, können also Integrierte Gesamtschulen werden.

  • „Wo Eltern und kommunale Schulträger dies wünschen, werden Oberschulen auch künftig möglich sein.“

  • G8 bleibt bestehen, aber eine SPD-Landesregierung wird prüfen, „ob die Oberstufe so reformiert werden kann, dass Schülerinnen und Schüler nach eigenem Ermessen das Kurssystem der Oberstufe in zwei oder drei Jahren durchlaufen können“.

(S.11)

Zusammen mit der Reform der Schulstruktur will die SPD in der neuen Legislaturperiode „ein Lehrerbildungsgesetz auf den Weg bringen, um die Lehrerbildung praxisnah zu modernisieren“ (S.10). Wie das Gesetz strukturell aussehen soll, steht nicht im „Regierungsprogramm“, wurde aber bereits in einem Antrag am 28.9.2012 in den Landtag eingebracht und vom Vorsitzenden des Landtagsausschusses für Wissenschaft und Kultur, Wolfgang Wulf, vorgestellt. Wulf spricht von einem „Paradigmenwechsel“, was die vom Staat zu bestimmenden Rahmenbedingungen betrifft. Das große Problem der Lehrerbildung in Niedersachsen sei deren Schulformbezug. Gebraucht aber würden „Lehrkräfte, die auf die besonderen Bedingungen von Schülerinnen und Schülern in bestimmten Entwicklungsphase eingehen können“, „die so flexibel sind, dass sie auch in verschiedenen Schulformen und –stufen unterrichten können“. Kern eines neuen Lehrerbildungsgesetzes soll sein:

Für alle Lehrämter gibt es ein sechssemestriges Bachelor- und ein viersemestriges Masterstudium. Neben der beizubehaltenden Lehrkraft mit dem inhaltlichen Schwerpunkt Förderpädagogik soll es die Primarstufenlehrkraft – unter Einbeziehung von schulrelevanten Aspekten der Elementarpädagogik – und die Sekundarstufenlehrkraft mit dem Schwerpunkt Sekundarstufe 1 sowie dem Schwerpunkt Sekundarstufe 2 für die gymnasiale Oberstufe bzw. die berufsbildende Schule geben. (www.spd-landtag-nds.de/ 28.9.2012, S.4)

Bündnis 90/ Die Grünen

Die Grünen propagieren in ihrem „Programm zur niedersächsischen Landtagswahl 2013“ das Konzept einer „Neuen Schule“ „von der ersten Klasse bis zu einem ersten Abschluss nach neun Schuljahren“, in der alle Kinder, behinderte und nicht behinderte, „gemeinsam unterrichtet und individuell gefördert werden“. „Die Umsetzung dieses Konzepts einer leistungsfähigen Schule für alle Kinder und Jugendlichen“ lasse sich allerdings „nur schrittweise verwirklichen“. Ziel sei es, „ Schulpolitik gemeinsam mit den Menschen vor Ort zu gestalten“. Das ermögliche „passende Lösungen“ und erhöhe „die Akzeptanz aller Beteiligten“. (S.19)

Das Sofortprogramm bei einer Regierungsbeteiligung ist auch für die Grünen, die „Hürden für die Errichtung von Gesamtschulen“ zu senken und „auch kleine Gesamtschulen“ zuzulassen. Im Schulgesetz soll die Möglichkeit geschaffen werden, „dass Gesamtschulen andere Schulangebote ersetzen können“. „Wie erfolgreich gemeinsames Lernen aller Kinder und Jugendlichen“ sei, zeigten „die mit Preisen ausgezeichneten niedersächsischen Gesamtschulen - zum Beispiel Hildesheim, Göttingen und Braunschweig“. (S.20)

Mit den Schulträgern und Betroffenen vor Ort wollen die Grünen dort, wo das Interesse besteht, „Haupt-, Real- und Oberschulen zu integrativen Schulen weiterentwickeln“. Jede Schule müsse „auch einen Weg zum Abitur offen halten“, wofür sie „eine eigene Oberstufe“ brauche oder „fest mit einer Oberstufe kooperieren“ müsse. (S.20)

Zum Sofortprogramm der Grünen gehört auch, dass Gesamtschulen ihrem pädagogischen Konzept entsprechend „wieder generell das Abitur nach 13 Jahren anbieten können“; aber auch bei Gymnasien wollen sie den Schulträgern und Schulen ermöglichen, „sich für ein Abitur nach zwölf oder 13 Jahren zu entscheiden“. (S.22 f.)

Die Linke

Für die Linkspartei ist der größte Skandal von Schwarz-Gelb „die fortwährende Ungleichbehandlung der Integrierten Gesamtschulen“. Jedes vierte Kind werde „derzeit an einer IGS abgelehnt, weil nicht ausreichend Plätze zur Verfügung“ stünden und die Regierung sich weigere, dies zu ändern. Auch die Linkspartei fordert, dass zukünftig Gesamtschulen „4- oder in Ausnahmefällen auch 3-zügig“ sein können, mit der Perspektive: die IGS als die Schule für alle Kinder mindestens bis Klasse 10“. Die Entscheidung darüber falle allerdings „vor Ort, nicht im Landtag“. Wenn es vor Ort gewünscht werde, könne „die IGS alle anderen Schulformen ersetzen“. Das Abitur nach 13 Jahren müsse an Gymnasien und an Gesamtschulen wieder gelten. („Landtagswahlprogramm 2013“, S.38)

Ähnlich wie die SPD fordert auch die Linkspartei eine stufenbezogene Lehrerbildung. (S.39)

Was alle Parteien wollen

Ganztagsschulen

Unstrittig ist in allen Wahlprogrammen der Ausbau der Ganztagsschulen:

  • Bis 2020 will die CDU möglichst alle Schulformen „zu teilgebundenen Ganztagsschulen“ ausbauen. (S.36)

  • Die FDP will den Ausbau „mit Nachdruck voranbringen“; und wenn Eltern, Schüler/innen und Lehrkräfte es wollen, „dann soll die Einführung einer gebundenen Ganztagsschule“ möglich sein. (S.24)

  • Die SPD will „allen Schulen ermöglichen, echte, gebundene Ganztagsschulen zu werden“. Da dies „unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht in einem Schritt zu leisten“ sei, soll es für den Ausbau „einen Prioritäten- und Stufenplan“ geben. Vorrangige Berücksichtigung sollen Grundschulen und Integrierte Gesamtschulen finden und Schulen „mit hohem Bedarf an Ganztagsbetreuung“, „die von vielen Kindern mit Migrationshintergrund oder mit erhöhtem Armutsrisiko besucht werden“. (S.11)

  • Für die Grünen braucht erfolgreiches Lernen „Zeit und gute Konzepte“. Dafür seien Ganztagsschulen die beste Lösung. Statt des „2004 vom CDU-geführten Kultusministerium eingeführten Billigmodells, in dem mit Hilfe rechtlich bedenklicher Honorarverträge an einen herkömmlichen Vormittagsunterricht lediglich freiwillige Nachmittagsangebote angefügt“ werden, wollen die Grünen die Schulen „gemeinsam mit den Schulträgern und den Schulen schrittweise zu gebundenen Ganztagsschulen weiterentwickeln“. (S.21 f.)

  • Die Linkspartei fordert lapidar, dass alle Schulen zu gebundenen Ganztagsschulen werden, mit einem „vollwertigen, kostenlosen Mittagessen“. (S.38)

Außer der CDU, die an ihrem „teilgebundenen“ Konzept festhalten will, versprechen alle Parteien, auch die FDP, sich, unter den finanziellen Rahmenbedingungen, für „gebundene“, also wirkliche Ganztagsschulen einzusetzen

Inklusion

Ähnlich kostenträchtig wie die Einrichtung von „gebundenen“ Ganztagsschulen erweist es sich, der Forderung der UN-Konvention zu entsprechen, Kinder mit Handicaps nicht mehr in Sonderschulen zu überweisen. Auch dieses Projekt, das alle Parteien wollen, braucht nicht nur Geld, sondern Konzepte und vor allem den festen Willen, es wirklich umzusetzen, in einem System, das nach wie vor, gerade auch in Niedersachsen, sich mehr durch Exklusion als durch Inklusion auszeichnet.

  • Für die CDU ist die „gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung“ „ein elementarer Beitrag für ein integratives Zusammenleben“. Sie verweist auf ein „Gesetz zur Einführung der inklusiven Schule“, das der niedersächsische Landtag im März 2012 mit großer Mehrheit beschlossen hat. Erhalten bleiben soll allerdings das Recht der Eltern, entscheiden zu können, „welche Schulform ihr Kind besuchen soll“, die Förderschule oder die Regelschule, ohne dass eine Perspektive eröffnet wird, wie lange dieses besonders kostträchtige Nebeneinander und das weitere Überweisen von Kindern in Förderschulen währen soll. (S.38)

  • Die FDP setzt sich „für eine erfolgreiche Umsetzung der Inklusion ein“, was sie jedoch nicht daran hindert, sich gleichzeitig dafür einzusetzen, „dass gute Förderschulen bestehen bleiben und gefördert werden“. (S.24)

  • Eine SPD-Landesregierung will „zur Verwirklichung der Inklusion im Bildungsbereich“ „in einem Aktionsprogramm Schritte und zeitlichen Rahmen der inklusiven Bildung festlegen“, und dies „im Dialog mit den Betroffenen, Eltern, kommunalen Spitzenverbänden, Landesbehindertenbeauftragten und Verbänden“ entwickeln. Im Kultusministerium soll ein „Inklusionsbeirat“ eingerichtet werden, „um die Auswirkungen des Gesetzes zur Einführung der inklusiven Schule zu begleiten“. (S.10)

  • Für die Grünen werden durch das Nebeneinander von Förderschulen und Regelschulen, wie es CDU und FDP wollen, „unnötig Ressourcen vergeudet“. Die Grünen wollen die Förderschulen „im Dialog mit den Schulträgern, den Kommunen und den Menschen vor Ort zu Förderzentren weiterentwickeln und schrittweise in die allgemeinen Schulen integrieren“. Dabei wollen sie mit den Förderschulen „mit den Schwerpunkten Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung beginnen“. (S.21)

  • Das Ziel der Linkspartei ist „die Auflösung der Förderschulen ‚Lernen’, ‚soziale und emotionale Entwicklung’ sowie ‚Sprache’ bei Mitnahme und Ausbau der Förderressourcen“. Die anderen Förderschwerpunkte sollen „nach und nach in die allgemeinen Schulen inkludiert“ werden. (S.38)

Die entscheidende Differenz zwischen der schwarz-gelben Regierung und der Opposition im Landtag ist, dass CDU und FDP an Förderschulen festhalten wollen und dies mit der Wahlfreiheit der Eltern legitimieren. Davon werden Eltern dann auch Gebrauch machen, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass die allgemeinen Schulen nur unzureichend ausgestattet sind, um ihre Kinder in überschaubaren Lerngruppen individuell zu fördern. Die drei Oppositionsparteien wollen das Nebeneinander von Förderschulen und allgemeinen Schulen schrittweise überwinden und diesen Prozess mit den Betroffenen gestalten. Es sind allerdings Ankündigungen in Wahlprogrammen, die bekanntlich leichter zu machen sind, als sie dann in konkretes Regierungshandeln umzusetzen.

Schulpolitik im rot-grünen Koalitionsvertrag

Die neue Landesregierung brauchte nicht lange, um sich im Bildungsbereich auf ein gemeinsames Regierungsprogramm zu einigen. Alle wesentlichen Vorhaben, die beide Parteien im Wahlkampf angekündigt haben, finden sich im „Koalitionsvertrag 2013 bis 2018“, - bis auf das Konzept einer „Neuen Schule“ „von der ersten Klasse bis zu einem ersten Abschluss nach neun Schuljahren“, das die Grünen sich als ein längerfristig zu realisierendes Projekt vorgenommen haben. Es ist exakt die inklusive Schule für alle bis zum Ende der Schulpflicht nach finnischem Vorbild – unter Einschluss des Gymnasiums.

Relevant für die äußere Struktur des niedersächsischen Schulwesens sind etwa die folgenden Verhaben der Koalition:

  • Die „förmliche Empfehlung am Ende der Grundschule für die weiterführende Schule“ wird abgeschafft und durch „Beratung und Orientierung“ der Eltern ersetzt. Ermöglicht wird auch „die organisatorische Zusammenlegung von Grundschulen und Gesamtschulen“ (S.49)

  • Unverzüglich wird die Koalition „die Benachteiligung von Gesamtschulen auf allen Ebenen“ beenden und dafür sorgen, „dass die Errichtung von vierzügigen und – bei Sicherstellung der qualitativen Voraussetzungen – auch dreizügigen Gesamtschulen ermöglicht wird, um diese Schulform auch im ländlichen Raum anzubieten“. Gesamtschulen werden als „ersetzende Schulform“ zugelassen, das Abitur findet wieder nach 13 Schuljahren statt und Gesamtschulen haben wieder den Anspruch, „echte Ganztagsschulen zu sein“. (S.49)

  • Hauptschulen, Realschulen, Oberschulen und Kooperative Gesamtschulen können sich zu Integrierten Gesamtschulen weiterentwickeln. „Gemeinsam mit den Schulträgern und den Betroffenen vor Ort soll bei Interesse Haupt- , Real- und Oberschulen ein stärker integriertes Arbeiten ermöglicht werden.“ (S.49)

  • Neue Oberschulen können auch unter Rot-Grün eingerichtet werden. Sie arbeiten allerdings bis Ende Klasse 10 „jahrgangsbezogen“ und bilden nicht, wie unter Schwarz-Gelb beschlossen, spätestens nach Klasse 8 „abschlussbezogene“ Haupt- und Realschulklassen. (S.49)

  • Gymnasien bleiben auch in Niedersachsen unangetastet. Allerdings nimmt die Koalition wie in anderen Bundesländern „den Wunsch zahlreicher Eltern ernst, auch an den Gymnasien wieder das Abitur nach neun Jahren anzubieten“. In einem „ergebnisoffenen Dialog mit den Beteiligten und mit ausreichender Zeit für die Umstellung“ sollen „praktikable Möglichkeiten“ erörtert und umgesetzt werden, mit denen Druck aus den Gymnasien genommen werden kann“. Dazu gehöre „unter anderem eine Wahlmöglichkeit für die Gymnasien, sich in Zusammenarbeit mit den Schulträgern für ein Abitur nach 12 oder 13 Jahren zu entscheiden“. (S.50)

  • Das von der SPD vor der Wahl angekündigte neue „Lehrerbildungsgesetz“ soll auf den Weg gebracht werden. Darin wird die Koalition „die geltende Schulformorientierung der Lehrerbildung angesichts der Veränderung in der Schullandschaft in eine schulstufenbezogene Ausbildung umwandeln“ und „für alle Lehrämter ein sechssemestriges Bachelor- und viersemestriges Masterstudium vorsehen“. (S.43)

Die anderen Reformvorhaben der Landesregierung betreffen stärker die innere Struktur der Schule, die konkrete Unterrichtsgestaltung:

  • Die Koalition will „Sitzenbleiben und Abschulen durch individuelle Förderung überflüssig machen“, nicht kurzerhand abschaffen, wie das in der Öffentlichkeit diskutiert wird. (S.45)

  • Allen Schulen soll ermöglicht werden, „gebundene Ganztagsschulen zu werden“. Dabei sollen Gesamtschulen „vorrangig berücksichtigt werden, da dort das pädagogische Konzept bereits auf Ganztag ausgerichtet“ sei. (S.48)

  • Das wohl schwierigste Reformprojekt wird auch in Niedersachsen die „die Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ sein. Dazu soll „im ständigen Dialog mit allen Beteiligten ein Aktionsprogramm“ entwickelt und umgesetzt werden. Es sollen „die Unterstützungsangebote für die Weiterentwicklung der Schulen zu inklusiven Schulen“ ausgebaut und „mit zusätzlichen Ressourcen die optimale Förderung aller Kinder“ unterstützt werden, mit dem Ziel, „die Förderschulen im Dialog mit allen Beteiligten schrittweise in die bestehenden allgemeinen Schulen“ zu überführen. (S.46)

Einen Koalitionsvertrag zu formulieren bei einer so breiten Schnittmenge der beiden Partner ist einfach gegenüber der Umsetzung der zum Teil finanziell ambitionierten Vorhaben, zumal alle Vorhaben der Koalition, auch im Bildungsbereich und seiner angeblich so hohen gesellschaftlichen Bedeutung, unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen, - bei einem Landeshaushalt mit 60 Milliarden Schulden und einer von den Ländern selbst verschuldeten Schuldenbremse ab 2020. Es wird sich sehr bald zeigen, wie die Kunst „zu sparen und zu investieren“, von der der neue Ministerpräsident spricht (Frankfurter Rundschau, 20.2.2013, S.7), sich im Bildungsbereich darstellen wird, etwa bei so finanzträchtigen Vorhaben wie der individuellen Förderung, die Sitzenbleiben und Abschulen „überflüssig machen“ soll, dem Angebot an alle Schulen, „gebundene Ganztagsschulen“ zu werden oder dem Megaprojekt „inklusive Schule“.

Chancen für einen lagerübergreifenden Kompromiss

Auf den ersten Blick scheinen Regierung und Opposition vor der Wahl in wesentlichen Frage der Schulstruktur weit auseinander. Auch dort, wo man sich im Grundsatz einig ist, bei einer verstärkten individuellen Förderung, dem Ausbau der Ganztagsschule und der Inklusion, gibt es Differenzen. Doch die Umsetzung dieser Projekte übersteigt bei weitem die Zeit einer Legislaturperiode und wurde ja auch von der alten Regierung, wie unzureichend auch immer, schon auf den Weg gebracht.

Trotz dieser Differenzen gibt es bei näherem Zusehen durchaus die Chance für einen lagerübergreifenden Kompromiss, vor allem in den besonders strittigen Fragen einer Reform der äußeren Schulstruktur. Wie oben ausgeführt, gab es nach dem Abgang von Christian Wulff unter dem neuen Ministerpräsidenten David McAllister für kurze Zeit die Bereitschaft der CDU, dem Druck der Eltern, der Kommunen und der Opposition nachzugeben und die Hürden vor der Neugründung von Gesamtschulen abzubauen, um bald danach mit der Oberschule den Kampf gegen die Gesamtschule wieder aufzunehmen. Wenn nun die SPD ihre Zusage vor der Wahl einlöst, keine Oberschule zu schließen, ja auch Neugründungen, wenn sie vor Ort gewünscht werden, zu genehmigen, könnte das ein neues Zeitfenster öffnen für ein Aufeinanderzugehen, um den verbissenen schulpolitischen Streit in Niedersachsen zu entkrampfen, wie das ja inzwischen in lagerübergreifenden Kompromissen in einer ganzen Reihe von Bundesländern gelungen ist.

Gewinnen werden dabei auch in Niedersachsen vor allem Schülerinnen und Schüler, deren Eltern und die Kommunen, die mehr Spielraum erhalten für ein möglichst wohnortnahes Schulangebot bis zum Abitur als einem wichtigen kommunalen Standortfaktor. Hilfreich für Kompromissbereitschaft der neuen Opposition, insbesondere der CDU, könnte sein, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass der erbitterte und schikanöse Kampf von Schwarz-Gelb gegen die Gesamtschule und die verbreitete Unzufriedenheit darüber im Land die Stimmen gekostet hat, die bei dem knappen Wahlausgang Schwarz-Gelb am Ende gefehlt haben.

Einig waren sich alte Regierung und Opposition, zumindest die beiden großen Parteien, in dem Ziel, dass es längerfristig in Niedersachsen, wie in den Stadtstaaten und im Saarland jetzt schon, nur noch zwei Schulformen geben soll und eine davon das Gymnasium bleiben wird. Während die CDU prognostizierte, dass mit dem erhofften Siegeszug der Oberschule die Gesamtschule marginalisiert würde, setzte und setzt die SPD weiterhin auf die Integrierte Gesamtschule als der zweiten Säule neben dem Gymnasium. Was offensichtlich auch damit zu tun hat, dass es in Niedersachsen eine ganze Reihe von hervorragenden Gesamtschulen gibt, von denen einige auch mit Preisen ausgezeichnet wurden, und dass der Name „Gesamtschule“ im Land offensichtlich nicht als „verbrannt“ gilt.

Noch gibt es Hauptschulen, Realschulen, Oberschulen, Kooperative und Integrierte Gesamtschulen in Niedersachsen. Es wird spannend sein zu beobachten, wie sich das System unter Rot-Grün neu sortieren wird, wo die Zweigliedrigkeit, als Ziel formuliert, nicht, wie in den bislang zweigliedrigen Systemen, im Landtag beschlossen wird. Es bleibt den Akteuren vor Ort überlassen, wie die Schullandschaft weiterentwickelt werden soll, - auch angesichts stark zurückgehender Schülerzahlen.

Mit Blick auf die Wahl 2013 hat der Göttinger Erziehungswissenschaftler Hans-Georg Herrlitz unter dem Titel „Der Streit um die Gesamtschule in Niedersachsen“ einen akribisch recherchierten „Rückblick“ verfasst auf die schulpolitischen Debatten im Landtag von 1967 bis 2012. Herrlitz zeigt, wie von Anfang an und über wechselnde Regierungen hinweg die Gesamtschule für das konservative Lager ein in hohem Maße ärgerlicher Fremdkörper im dreigliedrigen niedersächsischen Schulsystem war, den es mit allen Mitteln der Regierungsmacht einzuhegen und zurückzudrängen galt.

Herrlitz, der sich als Erziehungswissenschaftler über viele Jahr an der 2011 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten IGS Göttingen-Geismar engagierte und die Gesamtschule nach wie vor für die einer demokratisch verfassten Gesellschaft angemessene Schulform hält, stellt am Ende seiner Studie, wohl in der Hoffnung, dass es zu einem Regierungswechsel kommt, nüchtern fest:

Akzeptiert man den Elternwillen als ausschlaggebendes Kriterium demokratischer Schulreformpolitik, so wird man (wohl oder übel) davon ausgehen müssen, dass es auch in Niedersachsen zu einer Zwei-Säulen-Struktur der Sekundarstufe I kommen wird, in der das Gymnasium neben der Gesamtschule vorerst seine Rolle behaupten kann, ohne allerdings durch eine Bestandsgarantie geschützt zu werden. Von einem dauerhaften, skandinavisch inspirierten Schulfrieden wären wir damit immer noch ein weites Stück entfernt. Aber wir hätten den Weg dorthin immerhin offen gehalten und breiter gemacht. (Unveröffentlichtes Manuskript, vom Autor zur Verfügung gestellt)

Letzte Aktualisierung: 06.03.2013