Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Schulfrieden in Hessen?

Februar 2014

Die Mittelstufenschule als Lösung des Hauptschulproblems

Hessen hat, wie andere sozialdemokratisch geführte Landesregierungen, in den 1970er Jahren Gesamtschulen gegründet, die das dreigliedrige Schulsystem ersetzen sollten. Ziel war, diese Schulform auch in der Fläche einzuführen. Der Plan ist am Widerstand der CDU-geführten Länder und der Gymnasiallobby gescheitert. Die Gesamtschule behielt zwar ihren Anspruch, ersetzende Schule zu sein und steht allen Kinder nach der Grundschule offen, sie blieb aber in der Konkurrenz zur Realschule und zum Gymnasium eine Schule mit einem geringen Anteil an leistungsstarken und einem entsprechend hohen Anteil an leistungsschwächeren Schüler/innen. Anerkannt wurden ihre Abschlüsse von der Kultusministerkonferenz nur mit der Auflage, ab Klasse 7 in wichtigen Fächern das dreigliedrige System abzubilden.

Mit dieser Gesamtschule war darum auch in Hessen bei traditionell gymnasial orientierten Eltern kein Staat zu machen, - es sei denn eine Gesamtschule entwickelt, wie in Wiesbaden, Kassel und Frankfurt, pädagogische Konzepte, die auch für Eltern mit gymnasial empfohlenen Kindern attraktiv wurden. Das war die Situation, als es auch im sozialdemokratischen Stammland Hessen in den 1980er und 1990er Jahren zu einem Regierungswechsel kam und CDU-geführte Landesregierungen die Bildungspolitik bestimmten. Die Handlungsmaxime der neuen Politik war es von Anfang an, das dreigliedrige System zu stabilisieren und eine Expansion der Gesamtschule, wo irgend möglich, zu verhindern. Vor allem im Wahlkampf wurde der SPD immer wieder unterstellt, sie wolle letztlich mit der Gesamtschule nach DDR-Vorbild die „sozialistische Einheitsschule“ durchsetzen. Diese Polemik blieb nicht ohne Wirkung und verhinderte, dass sich die SPD immer weniger zu einer offensiven Verteidigung der Gesamtschule entschließen konnte.

Die Existenz der Gesamtschule war nicht nur grundsätzlich für die konservative Regierung ein Dorn im Auge, sie war auch mitverantwortlich für eine zunehmend schwächelnde Hauptschule als der notwendigen „Entlastungsschule“ für das dreigliedrige System. Jede von Eltern und Schulträgern durchgesetzte neue Gesamtschule ging vor allem auf Kosten der Hauptschule vor Ort. Diese Entwicklung beschleunigte sich mit der ersten PISA-Studie (2000) und ihren zentralen Aussagen einer massiven sozialen Auslese des deutschen Schulsystems und dem hohen Anteil an „Risikoschüler/innen“, die sich vor allem in Haupt- und Sonderschulen versammeln und die, ob mit oder ohne Hauptschulabschluss, nur noch schwer auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sind. Das hat der Gesamtschule Auftrieb gegeben und der Akzeptanz der Hauptschule bei den Eltern so sehr geschadet, dass auch in Hessen die CDU-Alleinregierung unter Roland Koch von Zweifeln heimgesucht wurde, ob das Festhalten an der eigenständigen Hauptschule noch lange möglich sein wird.

Nach der Landtagswahl 2009, bei der die CDU ihre absolute Mehrheit verlor, musste die Partei einer gestärkten FDP das Kultusministerium überlassen und da einer Ministerin, Dorothea Henzler, die nicht nur ein entspanntes Verhältnis zur Gesamtschule hatte, sondern es verbundenen Haupt- und Realschulen freistellen wollte, ob sie ihre Schüler/innen bis Klasse 9 gemeinsam unterrichten, ehe es in abschlussbezogenen Klassen weitergehen sollte. Nach massivem Einspruch des großen Koalitionspartners gegen solche Pläne ist daraus zuletzt die „Mittelstufenschule“ geworden, mit einer gemeinsamen „Aufbaustufe“ in den Klassen 5 bis 7, in der durchaus auch integrativ unterrichtet werden kann. Am Ende von Klasse 7 fällt für die Schüler/innen die Entscheidung, ob sie sich in einem „praxisorientierten Bildungsgang“ auf den Hauptschulabschluss vorbereiten oder in einem dreijährigen Bildungsgang auf den Mittleren Abschluss. Seit dem 30. Juni 2010 können verbundene Haupt- und Realschulen nach diesem Konzept der neuen Mittelstufenschule unterrichten. Die wenigen eigenständigen Hauptschulen im Lande sollten, so der Plan, auslaufen oder sich eine Realschule als Partner suchen.

Mit dieser Strukturreform der schwarz-gelben Koalition schien auch die CDU ihre Hoffnung, die sieche Hauptschule doch noch retten zu können, begraben zu wollen. Um so mehr überraschte ihre helle Empörung, als die Bundes CDU unter der Federführung von Annette Schavan einen Antrag für den Bundesparteitag 2011 formulierte, in dem Ländern der Vorschlag gemacht wurde, nach dem Vorbild der sächsischen Mittelschule ein zweigliedriges Schulsystem anzustreben aus Gymnasium und einer zweiten Schule, die beide Abschlüsse der Sekundarstufe I anbietet., den Hauptschulabschluss und den Mittleren Abschluss. Diese Schule sollte erst am Ende von Klasse 6 die Schüler/innen, die nicht nach der Grundschule aufs Gymnasium wechseln, in abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen einweisen. Sie sollte allerdings, wie in Sachsen inzwischen auch, nicht mehr Mittelschule, sondern Oberschule heißen.

Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier bestand nun wieder darauf, die Vielfalt von Schulen, die Hauptschule eingeschlossen, zu erhalten. Wer jetzt sage, „ihr macht zwei Säulen daraus“, der müsse „das gesamte hessische Schulsystem umkrempeln“, was er für falsch halte. Sein vordringliches Ziel sei es, nach Jahren ideologischer Kämpfe den „Schulfrieden“ in Hessen herzustellen, womit er wohl aktuell in erster Linie den Frieden innerhalb der CDU meinte. Um vor allem die hessische CDU zu beruhigen, wurde der Antrag an den Bundesparteitag ergänzt um den Satz, dass „funktionierende Haupt- und Realschulen“ respektiert werden sollten, „wo dies dem Elternwillen entspricht“. Dem Hinweis Schavans, dass es in Hessen nur noch fünf selbstständige Hauptschulen gebe und dass nur noch zwei Prozent der Eltern einen Platz an einer Hauptschule wünschten, entgegnete der Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag, Christean Wagner, dass jedoch am Ende 20 Prozent einen Hauptschul-Abschluss machten, - dank der zahlreichen Abschulungen aus Gymnasium und Realschule. (Frankfurter Rundschau, 15.9.2011, S.22)

Die heftige Auseinandersetzung zwischen hessischer und Bundes CDU zeigt, dass das Konzept der Mittelstufenschule als Lösung des eskalierenden Hauptschulproblems für die hessische CDU ein schmerzlicher Kompromiss mit dem Koalitionspartner FDP und der damaligen Kultusministerin Dorothea Hensler war, ein Kompromiss, der allerdings auch nach dem innerparteilichen Streit der CDU Bestand hat als ein freiwilliges Angebot an Schulen, Eltern und Schulträger.

Die Reaktionen der Opposition auf die neue Mittelstufenschule

Die SPD antwortet auf die Schulgesetznovelle von Schwarz-Gelb mit der Mittelstufenschule als neuer Schulform mit einem eigenen Schulgesetzentwurf, den sie im August 2010 veröffentlichte. Das strukturell Neue in dem Entwurf steht in § 14 („Weiterentwicklung zu Gemeinschaftsschulen“). Alle Weiterführenden Schulen können sich allein oder mit anderen Schulen zusammen zu einer Gemeinschaftsschule entwickeln, wenn die „zuständige Schulbehörde dem Vorhaben zustimmt und die Schulen ein Konzept für die Entwicklung der Gemeinschaftsschule vorlegen“. Über den Antrag der Schulkonferenz „auf Weiterentwicklung zu einer Gemeinschaftsschule“ oder „über die Neuerrichtung einer Gemeinschaftsschule beschließt der Schulträger“, nicht das Kultusministerium.

In Gemeinschaftsschulen findet individuelles und gemeinsames Lernen und individuelle Förderung von der Schulanfangsphase bis zur gymnasialen Oberstufe statt. Endet eine Gemeinschaftsschule mit der Jahrgansstufe 10, ist ein Schulverbund mit einer gymnasialen Oberstufe zu bilden, um die kontinuierliche Fortsetzung des studienqualifizierenden Bildungsganges zu erleichtern. Die Gemeinschaftsschulen führen zu allen allgemein bildenden Abschlüssen. Die Sekundarstufe I untergliedert sich dabei nicht in unterschiedliche Bildungsgänge. (S.20)

Die SPD setzt mit diesem Konzept auf eine Schule für alle Kinder über die Grundschule hinaus, macht deren Zustandekommen jedoch abhängig vom Willen der Schule, der Eltern und des Schulträgers. Sie sagt klar, was ihr Ziel ist, ohne dieses Ziel mit einer Landtagsmehrheit von oben erreichen zu wollen. Das ist ja auch schon der parteiübergreifende Kompromiss bei der Neugründung einer Gesamtschule, wobei allerdings unter einer CDU-Alleinregierung und unter Schwarz-Gelb wiederholt die Genehmigung durch das Kultusministerium verweigert wurde.

Die Frage stellt sich, warum die hessische SPD, die zahlreiche Integrierte Gesamtschulen gegen den massiven Widerstand der Konservativen auf den Weg gebracht hat, sich jetzt auf eine neue Schulform, die Gemeinschaftsschule, einlassen will. In einem Interview, in dem die schulpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion „für alle Schulen, die sich entscheiden, binnendifferenziert zu arbeiten“, „zusätzliche Mittel“ in Aussicht stellt, moniert der Interviewer „binnendifferenziert“ als „abgehobenen Begriff“ und fragt , warum die SPD nicht einfach weiterhin von Gesamtschule spreche. In ihrer Antwort begründet Heike Habermann, warum die Partei sich auf die neue Schulform der Gemeinschaftsschule eingelassen hat.Unter „binnendifferenziert“ verstehe man, „dass in der Mittelstufe nicht mehr nach zwei Gruppen differenziert gearbeitet werden muss, wie in der bisherigen Integrierten Gesamtschule“. Die Kultusministerkonferenz habe „für dieses Modell längeren gemeinsamen Lernens die Bezeichnung Gemeinschaftsschule gewählt“. Die SPD sehe „dieses Angebot als eine Weiterentwicklung“ und freue sich „über jede Gesamtschule, die diesen Weg beschreiten möchte“. (Frankfurter Rundschau, 8.6.2013, S.R12)

Auf die abschließende Frage an Heike Habermann, ob sie in „in Hessen einen Schulfrieden wie in NRW für möglich“ halte, wo sich die Parteien SPD, Grüne und die oppositionell CDU über die Schulentwicklung in den nächsten zehn Jahren verständigt haben, antwortet sie mit dem Vorschlag: Die SPD könne sich „gut vorstellen wie in Hamburg eine Enquete-Kommission einzusetzen, die ihre Vorstellungen von einer guten Schule entwickeln soll“. Auf dieser Basis könne man „eine Vereinbarung unter den Parteien anstreben“ und es kämen „jene zu Wort, die das Fachwissen und die Praxiskenntnisse haben“.

Die Grünen bleiben bei ihrem integrativen Konzept einer „Neuen Schule“, das sie auch schon in früheren Wahlprogrammen vertreten haben, jetzt aber verbunden mit einem Bekenntnis zu einem Zwei-Wege-Modell, wie es bereits die drei Stadtstaaten und das Saarland beschlossen haben: Zwei Schulformen, die beide zum Abitur führen. Gefragt nach den zentralen Botschaften im angehenden Wahlkampf antwortet der Vorsitzende der hessischen Grünen, Tarek Al-Wazir: Die Grünen wollen „den hessischen Schulkampf nach 40 Jahren endlich beenden und neben dem Gymnasium eine zweite Schulform anbieten“, die „Neue Schule“, „die längeres gemeinsames Lernen und alle Abschlüsse ermöglicht“. Dies sei ein „Angebot an Schulträger, Eltern, Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler“. Ein Blick nach NRW zeige, „dass CDU-Bürgermeister im ländlichen Raum zu den ersten gehören, die dieses Angebot auch annehmen“. (Wiesbadener Kurier, 3.8.2012, S.8)

In ihrem Wahlprogramm 2013 wird diese Position bestätigt. Die Grünen wollen den jahrzehntelangen erbitterten Schulkampf beenden und streben einen breiten gesellschaftlichen Konsens an zwischen den Befürworten des gegliederten Schulsystems und „eines stärker skandinavisch orientierten“ Systems. Ziel sei „eine Vereinbarung zwischen den an Schule Beteiligten und den im Landtag vertretenen Parteien über Schulentwicklung in Hessen für die nächsten zehn Jahre“, damit Schulen endlich Planungssicherheit bekommen und „sich auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren“ können.

Ein solcher Schulfrieden sei auch in Hessen möglich, „wenn alle politischen Parteien endlich den Elternwillen respektieren“. Konkret bedeute das: „Eltern, die längeres gemeinsames Lernen für ihre Kinder wollen, sollen ein solches Angebot endlich auch in Hessen wohnortnah finden.“ Andererseits gilt für die Grünen, „keine von den Eltern vor Ort akzeptierte Schule des gegliederten Schulwesens“ abzuschaffen. Die Erfahrungen anderer Bundesländer zeigten allerdings, „dass sich aufgrund der Entscheidungen vor Ort mittel- bis langfristig mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Zwei-Säulen-Schulsystem entwickeln wird“, aus Gymnasium und einer weiteren leistungsfähigen Schulform „mit längerem gemeinsamem Lernen und allen Abschlüssen“. (S.20 f.)

Andere Reformprojekte

G8 oder G9 oder beides an einer Schule

Die zum Schuljahr 2005/06 in Hessen eingeführte Verkürzung der gymnasialen Schulzeit in der Sekundarstufe I erwies sich sehr bald als schlecht vorbereitet und als starke Belastung der Schüler/innen in einer ohnehin schwierigen Entwicklungsphase. Sie wurde darum zum Ärgernis vieler Eltern und Lehrer/innen. Von der wachsenden Kritik blieb die CDU-Alleinregierung und danach auch Schwarz-Gelb über Jahre hin scheinbar unbeeindruckt. Alle Versuche der Regierung, Dampf aus dem Kessel zu lassen, blieben ohne Wirkung, bis dem hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, der diese Erblast von der Regierung Koch übernommen hatte und 2013 erstmals zur Wahl antreten musste, der Kragen platzte. Ähnlich unvermittelt wie die Einführung von G8 sollte jetzt schon zum Schuljahr 2013/14 den Gymnasien freigestellt werden, zu G9 zurückzukehren.

Da der Ministerpräsident seine Ankündigung ohne Abstimmung mit dem Koalitionspartner und der FDP-Kultusministerin machte, brauchte es eine Weile, bis auch die FDP damit einverstanden war. Am 18.9.2012 bestätigte das Kultusministerium, dass Schulen zum Schuljahr 2013/14 oder auch zu einem späteren Zeitpunkt zu G9 zurückkehren können, und erklärte darüber hinaus die Möglichkeit eines Parallelangebots G8 und G9 an großen Schulen zum Schulversuch. (Frankfurter Rundschau, 19.9.2012)

Einmal abgesehen von dem komplizierten Schulversuch G8 und G9 an großen Gymnasien, wirft auch die Wahlfreiheit der einzelnen Schule zwischen G8 und G9 die Frage auf, wie es um die Wahlfreiheit der Eltern bestellt sein wird, wenn eine Schulkonferenz sich für G8 oder G9 entscheidet gegen eine starke Minderheit in der Elternschaft. Das mag in Kommunen mit mehreren Gymnasien noch angehen, wo man wählen kann, wenn die Kapazitäten der G8-und G9-Schulen in etwa den Elternwünschen entsprechen. Was aber machen Eltern dort, wo für die Nachbarschule mit der gewünschten Variante weite Schulwege erforderlich sind oder diese Schule sich gar für dieselbe, nicht erwünschte Variante entschieden hat? Den Streit wird es mehr oder minder heftig an jeder einzelnen Schule geben, die Verantwortung dafür bleibt jedoch bei der Regierung. Und was wird aus diesem mit heißer Nadel gestrickten Konzept, wenn es bei der anstehenden Wahl zu einem Regierungswechsel kommen sollte?

Die Grünen beanspruchen die Urheberschaft für die Wahlfreiheit der Gymnasien zwischen G8 und G9 und freuen sich, so ihr bildungspolitischer Sprecher im Landtag, Mathias Wagner, „dass die schwarz-gelbe Landesregierung jetzt auch für die Wahlfreiheit der Schulen eintrete. Darum haben sie mit der Regierung für die entsprechende Änderung des Schulgesetzes gestimmt, was ihnen Lob von Schwarz-Gelb und Tadel von ihrem Wunschpartner für den Politikwechsel in Hessen, der SPD, eintrug. (Frankfurter Rundschau, 21.11.2012, S.R4)

Die hessische SPD wirbt im Streit um G8 seit Jahren für ein Konzept, wonach die Sekundarstufe I wieder sechsjährig wird und es den jungen Erwachsenen in der Oberstufe überlassen bleibt, ob sie nach zwölf, nach dreizehn oder erst nach vierzehn Schuljahren das Abitur machen. „Eine modularisierte Oberstufe“, heißt es im „Regierungsprogramm“ der SPD, „soll nicht nur eine größere Wahlfreiheit bei der Fächerkombination, sondern auch eine unterschiedlich lange Verweildauer ermöglichen.“ (S.13)

Unterstützt werden Landesregierung und Grüne weder vom größten hessischen Lehrerverband, der GEW, noch vom Philologenverband, der auch die längere Zeit bis zum Abitur für das bessere Konzept hält. Diese Position teilt auch die Landesschülervertretung und der Landeselternbeirat. Dessen Vorsitzende Kerstin Geis stellt fest, dass mehr als 90 Prozent der Eltern gegen G8 seien, im neuen Gesetz aber liege die Wahlfreiheit gar nicht bei den Eltern, sondern bei den Schulen. (http://bildungsklick.de/ 19.11.2012)

Inklusion

Die Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen steht seit 2009 auch in Hessen als gesellschaftliche Aufgabe auf der Tagesordnung und das gilt in besonderem Maße für den Bildungsbereich, wo bislang im Bereich der Schule Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderschulen, die neuerdings euphemistisch Förderschulen heißen, eingewiesen werden, es sei denn sie finden einen der wenigen Plätze an einer Regelschule, die Gemeinsamen Unterricht (GU) anbietet, und auch das geschieht zumeist nur an Grundschulen. Die Sonderschulen sollen im Geiste der UN-Konvention allmählich auslaufen und Heranwachsende mit Behinderungen vom ersten Kita-Tag bis zum Ende der Ausbildung in Betrieben und Hochschulen mit nicht behinderten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen leben und lernen.

Dieses Recht auf gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben ist in vorschulischen Einrichtungen leichter umsetzbar, weil es dort vom System her kein Aussortieren gibt, die Schule jedoch vom ersten Schultag an Kinder nicht nur in Sonderschulen überweist, sondern sie am Ende der Grundschule und weit darüber hinaus in unterschiedlich anspruchsvolle Schularten einsortiert. Dieser permanente Ausleseprozess ist nach wie vor besonders ausgeprägt in den Bundesländern, die an einem dreigliedrigen Schulsystem festhalten wollen. Das war bis vor Kurzem Niedersachsen und das sind aktuell nur noch Bayern und Hessen, wobei Hessen immerhin neben Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien auch Integrierte Gesamtschulen hat, die von ihrem Anspruch her Auslesen und Abschulen durch individuelle Förderung ersetzen.

Auch die schwarz-gelbe Landesregierung will der völkerrechtlich verbindlichen Forderung nach einer inklusiven Schule entsprechen, selbst wenn dieser Prozess 10 bis 15 Jahre dauern könnte. Dem stehen allerdings Aussagen der Koalition gegenüber, in denen das Recht behinderter Kinder und ihrer Eltern, sich auch künftig für eine Förderschule und gegen eine Regelschule zu entscheiden, verteidigt wird. (Frankfurter Rundschau 29.3.2012 und 24.10. 2012). Anträge von Eltern auf Besuch einer Regelschule für ihr Kind werden bislang in einem Ausschuss aus Eltern, Lehrkräften und Schulleitung der aufnehmenden Schule und Sonderpädagogen beraten, befürwortet oder abgelehnt. Das letzte Wort hat allerdings das Staatliche Schulamt, das auch einen vom Ausschuss bewilligten Antrag ablehnen kann mit der Begründung, es gebe für die Förderung des Kindes nicht genügend Ressourcen an der ausgewählten Schule. (Frankfurter Rundschau, 26.2.2013)

Nach einer aktuellen Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm besucht inzwischen jedes vierte Kind mit speziellem Förderbedarf eine Regelschule, gleichzeitig aber ist der Anteil der Kinder an Sonderschulen konstant geblieben, weil immer häufiger ein „sonderpädagogischer Förderbedarf“ attestiert werde. Dem Ziel, die Sonderschulen für einen Großteil der Schüler/innen künftig überflüssig zu machen, sei Deutschland keinen Schritt näher gekommen. Das „Doppelsystem“ aus Regelschulen und separaten Förderschulen, das unverändert Bestand habe, erschwere jedoch, so Klemm, „eine erfolgreiche Inklusion, weil die Förderschulen jene Ressourcen binden, die dringend für den gemeinsamen Unterricht benötigt werden“. Die Umsetzung des Projekts gerate zudem im Bildungsföderalismus zum „Flickenteppich“. Während in Bremen bereits 55,6 Prozent aller Förderschüler/innen eine Regelschule besuchten, seien es in Niedersachsen nur 11 Prozent und in Hessen 17, was allerdings immer noch weit unter dem Bundesdurchschnitt von 25 Prozent liege. Für alle Länder gelte: „Je älter ein Kind ist, desto geringer sind seine Chancen auf gemeinsames Lernen.“ Während Kindergarten und Grundschule bei der Inklusion vorankämen, tue „sich in Realschulen und Gymnasien fast nichts“. (Frankfurter Rundschau, 19.3.2013, S.22)

Die Opposition im hessischen Landtag aus SPD, Grünen und Linkspartei ist sich einig, dass die Regierung nur halbherzig die Inklusion angeht, und mit ihrem Ressourcenvorbehalt, mit dem das Staatliche Schulamt Anträge für den Besuch der Regelschule verweigern kann, betreibe sie ein Verhinderungspolitik durch die Hintertür. Die SPD fordert darum ein „echtes Wahlrecht“ der Eltern und den Ressourcenvorbehalt zurückzunehmen. Die Grünen sehen in dem Vorbehalt einen klaren Verstoß gegen die UN-Konvention und die Linkspartei droht mit dem Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. (Frankfurter Rundschau, 9.6.2011)

Ganztagsschule

Die schwarz-gelbe Landesregierung hat einen sehr weiten Begriff von Ganztagsschule. Sie spricht am liebsten von „Ganztagsangeboten“ und meint damit alle freiwilligen Betreuungsangebote am Nachmittag. Kritik an dieser Begriffsklitterung kommt vom Ganztagsschulverband Hessen. Dessen Vorsitzender, Guido Seelmann-Eggebert verweist in einem Beitrag auf eine Studie des Deutschen Jugendinstituts von 2012 mit dem Titel „Ganztagsschule als Hoffnungsträger für die Zukunft“. Darin geht es um den Rechtsanspruch eines Kindes auf einen Platz an einer „gebundenen“ (verpflichtenden) Ganztagsschule, im Unterschied zur „offenen“, die ein freiwilliges Nachmittagsangebot macht. Nach der Studie machen inzwischen 51,1 Prozent der Schulen im Schuljahr 2010/11 ein Ganztagsangebot (Tendenz steigend), aber nur 12,7 Prozent aller Schüler/innen besuchten eine „gebundene“ Ganztagsschule.

In Hessen lag der Anteil der Schulen, die ein freiwilliges Ganztagsangebot machen, 2011 bei 37,8 Prozent und soll nach Auskunft des Kultusministeriums im Schuljahr 2012/13 auf 45 Prozent gesteigert werden. Von den 80 „gebundenen“ Ganztagsschulen seien, so Seelmann-Eggebert nach Recherchen des Ganztagsschulverbandes, die meisten Förderschulen, gerade einmal fünf von 80 seien Grundschulen und 20 weiterführende Schulen, davon wiederum überwiegend Integrierte Gesamtschulen. Die Studie beziffert den Finanzbedarf für eine flächendeckende Versorgung mit „gebundenen“ Ganztagsschulen in Hessen auf 500 Millionen. Diese Schätzungen decken sich nach Seelmann-Eggebert mit Berechnungen des Ganztagsschulverbandes. Tatsächlich gebe Hessen für ganztägig arbeitende Schulen insgesamt 50 bis 60 Millionen aus. (G. Seelmann-Eggebert: Ganztagsschulen fehlen auch in Hessen. In: Hessische Lehrerzeitung 9-10, 2012, S.25)

Im „Regierungsprogramm“ der SPD werden die Vorzüge der Ganztagsschule so beschrieben, als ob es sich nur noch um die „gebundene“ Form handelt. „Wir wollen“, heißt es da, „einen Schulalltag, der ganzheitliche Förderung realisiert, zum Beispiel durch fächerübergreifendes und auch projektorientiertes Lernen“. Jedem Kind soll „wohnortnah eine ganztägig arbeitende Schule“ angeboten werden, wobei die Grundschule Priorität haben soll. Die SPD will „jährlich 100 echte Ganztagsschulen aufbauen“. (S.13)

Auch die Grünen setzen beim Ausbau von Ganztagsschulen ihre Priorität bei den Grundschulen. Nur geht es dabei nicht um „echte Ganztagsschulen“. Alle Kinder sollen von 7.30 bis 17.00 Uhr betreut werden. Für die Zeit bis 14.30 Uhr sollen die Schulen und damit das Land zuständig sein, für den übrigen Nachmittag die Kommunen. Rund 350 Grundschulen würden bereits ein Ganztagsprogramm anbieten; die meisten allerdings nur an drei von fünf Tagen, was berufstätigen Eltern Probleme bereite. Für die SPD ist das freiwillige Ganztagsangebot der Grünen allerdings eher ein „Betreuungskonzept“ als ein „Bildungskonzept“. (Frankfurter Rundschau, 19.3.2013, S.R5)

Lehrerbildung

An einer schulformbezogenen Lehrerbildung wollen CDU und FDP nicht rütteln. Sie ist hierarchisch gegliedert insofern, als das Studium der Lehrämter für Grundschule und Haupt- und Realschule kürzer ist, ein höheres Lehrdeputat hat und geringer besoldet wird als das Lehramt an Gymnasien. Diese Differenz einzuhalten wird allerdings mit der Umstellung auf ein Bachelor/Master-Studium schwierig, mit einem gemeinsamen sechssemestrigen Bachelor-Studium.

Der SPD geht es seit Jahren um den Abbau von Hierarchien im Lehrerberuf. So müsse die Dauer der Ausbildung der Lehrämter angeglichen werden. Im „Regierungsprogramm“ der Partei lautet der strukturrelevante Satz: „Wir wollen die Gleichwertigkeit der Lehrämter in einer stufenorientierten Ausbildung abbilden.“ (S.15) Die Grünen sind in dieser Frage nicht entschieden und wollen erst einmal „im Dialog mit allen Beteiligten über die künftige Struktur der Lehrerbildung und die unterschiedliche Besoldung beraten“. („Wahlprogramm“ 2013, S.26 f.)

Fazit der Positionen vor der Landtagswahl

Die Differenzen zwischen Regierung und Opposition sind in fast allen Reformprojekten erheblich, so dass es vor der Wahl schwer vorstellbar ist, wie etwa ein lagerübergreifender Schulkompromiss gefunden werden kann. Aber auch SPD und Grüne, die koalieren und den Politikwechsel herbeiführen wollen, werden es nicht leicht haben, sich bei den schulpolitisch strittigen Punkten auf ein gemeinsames Regierungsprogramm zu einigen. Ein Schulfrieden in Hessen, der für den amtierenden Ministerpräsidenten mit dem neuen Schulgesetz und der G8/G9-Regelung bereits erreicht wurde, ist jedenfalls noch nicht in Sicht. Das sieht der CDU-Fraktionsvorsitzende Christean Wagner auch so, wenn er wenige Tage vor der Wahl vor einem „Systemwechsel“ warnt, der von der „Einheitsschul-Front“ der Oppositionsparteien vorbereitet werde. (Frankfurter Rundschau, 4.9.2013, S.R4)

Schulpolitische Vereinbarungen im schwarz-grünen Koalitionsvertrag

Bei der Landtagswahl am 22.9.2013 verlor Schwarz-Gelb die absolute Mehrheit , aber auch Rot-Grün, das lange wie der sichere Sieger aussah, konnte nur mit der Linkspartei den vor der Wahl so einmütig proklamierten Politikwechsel realisieren. Da diese Option bereits bei Sondierungsgesprächen scheiterte, blieb SPD und Grünen nur das, was beide Parteien um jeden Preis verhindern wollten, sich mit der CDU auf eine Koalition verständigen zu müssen. Da beide nun um die Machtbeteiligung konkurrierten, war die CDU in der komfortablen Lage, sich den Partner für ernsthafte Koalitionsgespräche aussuchen zu können.

Der Koalitionsvertrag von Schwarz-Grün, der auch am extrem kontroversen Thema Flughafen und Lärmbelastung nicht scheiterte, war wohl im schulpolitischen Teil ein vergleichsweise leichtes Spiel, zumal die Grünen mit ihrer Zustimmung zur Schulgesetznovelle von Schwarz-Gelb schon vor der Wahl der angenehmere Gegner waren im Vergleich zur SPD.

„Schulvielfalt, gegliedertes Schulwesen, längeres gemeinsames Lernen“

Unter dieser Überschrift gibt es im Kapitel „Schule verlässlich gestalten – Wahlfreiheit sichern“ einen kurzen Abschnitt, in dem die Koalition ankündigt, „dem Elternwillen nach einem vielfältigen Schulsystem Rechnung“ zu tragen, „keine Schulform abzuschaffen, die von den Eltern vor Ort akzeptiert wird“ und „sowohl Schulen des gegliederten Schulwesens als auch Schulen, in denen länger gemeinsam gelernt wird“, „verlässlich“ auszustatten und „ihnen pädagogische Weiterentwicklungen“ zu ermöglichen. (S.29)

Konkret heißt das: Es bleibt beim Konzept der Mittelstufenschule von Schwarz-Gelb als Angebot an alle verbundenen Haupt- und Realschulen. Was aus den fünf verbliebenen eigenständigen Hauptschulen wird, die ja nach dem Willen von Schwarz-Gelb auslaufen oder sich eine Realschule als Partner suchen sollten, wird im Koalitionsvertrag nicht geregelt. Was das längere gemeinsame Lernen betrifft, hat weder die CDU-Alleinregierung noch Schwarz-Gelb trotz aller Schikanen die Integrierte Gesamtschule ernsthaft gefährden und ihre wachsende Akzeptanz verhindern können. Unter Schwarz-Grün können Integrierte Gesamtschulen entscheiden, „ob sie den Unterricht ganz oder in einzelnen Jahrgangsstufen vollständig binnendifferenziert, in Kursen oder in abschlussbezogenen Klassen organisieren“. Für Klassen, „die ausschließlich binnendifferenziert unterrichtet werden“, soll sogar „die Klassenhöchstgrenze auf 25 Schülerinnen und Schüler gesenkt“ werden. (S.29)

Was immer von diesen Ankündigungen umgesetzt wird, für die CDU wären solche Zugeständnisse bis zum jähen Ende von Schwarz-Gelb nur als Horrorvisionen vorstellbar gewesen. Integrierte Gesamtschulen sollen tatsächlich frei sein von der Auflage, ab Klasse 7 das dreigliedrige Schulsystem in bestimmten Fächern wieder herzustellen, was die CDU-geführten Bundesländer seinerzeit in der Kultusministerkonferenz durchsetzten, als Bedingung für die Anerkennung der Abschlüsse der Gesamtschule. Es wird sich zeigen, wie viele und wie rasch sich hessische Gesamtschulen auf diesen Weg einer von Fesseln befreiten Schule für alle begeben werden.

„Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 garantieren – Elternwillen ernst nehmen“

Umfangreicher als das zentrale Streitthema der letzten vier Jahrzehnte „dreigliedriges Schulsystem oder längeres gemeinsames Lernen“ ist der Abschnitt im Koalitionsvertrag „Wahlfreiheit zwischen G8 und G9“, obwohl das Thema zwischen den Koalitionspartnern schon vor der Wahl gar nicht mehr strittig war. Gymnasien und Kooperative Gesamtschulen können ja schon seit dem Schuljahr 2013/14 wählen, „ob sie in der Mittelstufe G8 oder G9 anbieten wollen“ oder ob Gymnasien bei entsprechender Größe sich „für das parallele Angebot von G8 und G9 an einer Schule“ entscheiden. Dieser Schulversuch soll in der Koalition nun so weiterentwickelt werden, dass „die Bildung einzelner G8-Klassen an einer Schule erleichtert wird (Turboklassen)“. (S.29 f.)

Dass die Umsetzung dieses Konzepts konfliktträchtig ist, - an jeder einzelnen Schule, aber auch in der jeweiligen Kommune und Region, ist nach den Erfahrungen aus dem Schuljahr 2013/14 den Koalitionären wohl bewusst. Sie sehen darum „das Kultusministerium in einer moderierenden Rolle zwischen dem Elternwunsch nach G8 bzw. G9 und dem vorhandenen schulischen Angebot“. Ziel sei es, „gemeinsam mit den Schulträgern zu einem bedarfsgerechten Angebot an G8 und G9 zu kommen“. (S.29 f.)

Das wird nicht einfach sein. In der Landeshauptstadt Wiesbaden z.B. haben sich für das Schuljahr 2013/14 alle 7 Gymnasien geweigert, zu G9 zurückzukehren; für 2014/15 sind 3 bereit dazu, obwohl in Wiesbaden wie landesweit eine große Mehrheit der Eltern sich eine Rückkehr zu G9 wünscht. Was geschieht mit den Kindern, die an einer der drei G9-Schulen nicht ankommen? Sie werden nach der Rechtslage an G8-Gymnasien überwiesen, erklärt der Leiter des Staatlichen Schulamtes. (Wiesbadener Kurier, 14.1.2014, S.10) G8 oder G9 ist ein Schnellschuss des Ministerpräsidenten gewesen, mit dem er im Wahlkampf angesichts des verbreiteten Unmuts in der Elternschaft über die ebenfalls überhastete Einführung von G8 Ballast abwerfen wollte.

Die Grünen waren auch nach der Wahl in den Koalitionsverhandlungen nicht bereit, ihre Zustimmung zum wahltaktischen Überraschungscoup des Ministerpräsidenten zu überdenken und auf ein anderes Verfahren zu drängen. Zwar haben sie durchgesetzt, was sie mit SPD und Linkspartei im Wahlkampf vehement gefordert haben, dass in Schulen, „die ab Beginn des Schuljahres 2014/15 von G8 zu G9 zurückkehren“, „auch für die jeweils laufenden 5. und 6. Klassen ein Wechsel zu G9 möglich sein“ soll. Doch auch dieser Wechsel ist im Koalitionsvertrag hochkompliziert geraten; denn die Voraussetzung für diesen Wechsel ist „ein entsprechender Beschluss der Schulkonferenz sowie eine anonymisierte Befragung der Eltern durch das Staatliche Schulamt, ob sie G8 oder G9 für ihr Kind wollen“. „Bei einem einstimmigen Ergebnis oder bei Erreichen der notwendigen Schülerzahl zur Bildung mindestens einer G8-Klasse“ sei die Rückkehr möglich. In dieses Verfahren seien „auch die laufenden 6.Klassen an Schulen, die mit Beginn des Schuljahres 2013/14 von G8 zu G9 zurückgekehrt sind, einzubeziehen“. (S.30)

Was hat da wohl die Grünen geritten, sich für ein so unausgegorenes CDU-Konzept zu entscheiden, gegen den Vorschlag der SPD, es jungen Erwachsenen in der modularisierten Oberstufe zu überlassen, sich für 12 oder 13 Schuljahre zu entscheiden. Das Verfahren von Schwarz-Grün lässt ausdrücklich zu, dass ein Teil der Gymnasien, im Einvernehmen mit einer Mehrheit der Eltern, an G8 festhält und damit signalisiert, dass man an den schnellen und leistungsstarken Grundschüler/innen interessiert ist und an Eltern, die notfalls auch Nachhilfe zu finanzieren in der Lage sind. An diesen Schulen wird es dann auch das besondere Abitur geben. Es wird, wenn das eintritt, zu einer Spaltung dieser Schulform kommen zwischen Gymnasien mit großer Heterogenität ihrer Schülerschaft, die eher Integrierten Gesamtschulen gleichen und sich von ihnen formal gar nicht mehr unterscheiden, und solchen mit einem hohen Leistungsanspruch. Man kann davon ausgehen, dass es in der CDU, die seinerzeit nicht schnell genug G8 einführen konnte, viele Befürworter einer solchen Entwicklung gibt. Aber wollen das auch die Grünen?

„Inklusion und Förderschulen“

Schon die Überschrift dieses Abschnitts im Koalitionsvertrag deutet an, wer sich bei dem Thema in den Verhandlungen durchgesetzt hat. Es sollen bis zum Ende der Legislaturperiode „die Voraussetzungen für die inklusive Beschulung insbesondere im Grundschulbereich so weit“ verbessert werden, „dass möglichst kein Elternwunsch auf inklusive Beschulung mehr abschlägig beschieden werden muss“. Gleichzeit will die Koalition dort, „wo es von den Eltern gewünscht wird“, „das Förderschulsystem weiterentwickeln“. (S.34)

Unverbindlicher lässt sich wohl der pädagogisch schwierige und kostenträchtige Weg zu einer inklusiven Schule für alle Kinder und Jugendlichen nicht formulieren. Wer auch das hochentwickelte deutsche Förderschulsystem noch „weiterentwickeln“ will, also auch zusätzliche Ressourcen dafür zur Verfügung stellt, verschiebt das ambitionierte Projekt „inklusive Bildung“ auf den St.Nimmerleinstag.

„Pakt für den Nachmittag: Bildungs- und Betreuungsgarantie schaffen, Ganztagsschulprogramm ausweiten“

Hinter diesem etwas umständlich formulierten Titel im Koalitionsvertrag verbirgt sich das ebenfalls pädagogisch und finanziell anspruchsvolle Projekt „Ganztagsschule“. Auch bei diesem Thema waren, wie oben ausgeführt, die Grünen schon vor der Wahl näher bei der CDU als bei ihrem Wunschpartner für den Politikwechsel, der SPD.

Der „Pakt für den Nachmittag“ sieht im Koalitionsvertrag so aus: Gemeinsam mit den Kommunen soll „allen Eltern, die dies für ihre Grundschulkinder wünschen oder für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf brauchen, ein verlässliches Bildungs- und Betreuungsangebot von 7.30 bis 17.00 Uhr“ gemacht werden. Dafür ist das Land bereit, „alle Grundschulen auf freiwilliger Basis in das Ganztagsschulprogramm des Landes aufzunehmen und an fünf Tagen in der Woche“ seinen „Beitrag für den ‚Pakt für den Nachmittag’ zu leisten“. Im Gegenzug will die Koalition mit den Kommunen Vereinbarungen treffen, dass diese „ihrerseits für den Zeitraum von 14.30 bis 17.00 Uhr und in den Schulferien verlässlich die weiteren Bildungs- und Betreuungsangebote derjenigen Kinder sicherstellen, deren Eltern dies wünschen“. Mit diesem „Pakt“ werde „der Ausbau des Ganztagsschulprogramm weiter beschleunigt und intensiviert“. „Nach Möglichkeit“ will die Koalition „darüber hinaus auch die Weiterentwicklung vorhandener Ganztagsangebote von Profil 1 zu Profil 2 oder zu Ganztagsschulen nach Profil 3 fördern.“ Dabei handelt es sich, was der Koalitionsvertrag nicht erläutert, bei Profil 1 und 2 um freiwillige Betreuungsangebote an 3 Tagen bis 14.30 bzw. an 5 Tagen bis 17.00 und bei Profil 3 um die oben genannten 80 verpflichtenden Ganztagsschulen. Priorität hat jedoch der „Pakt für den Nachmittag“, der mit den Kommunen verhandelt werden soll. (S.32)

In einer Pressemeldung des Ganztagsschulverbandes Hessen vom 20.12.2013 zeigt sich der Vorsitzende, Guido Seelmann-Eggebert, von den Plänen der Koalition enttäuscht. Der schon im CDU-Wahlprogramm enthaltene „Pakt für den Nachmittag“ sehe lediglich „den flächendeckenden Ausbau des Betreuungsangebots für Grundschulkinder vor“. Die Finanzierung soll dann „überwiegend durch Kommunen und Eltern sichergestellt werden“. Dieser Ausbau sei „zwar ein Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber kein Beitrag zur Verbesserung von Bildungschancen von Kindern aus bildungsfernen Familien“. Der Ganztagsschulverband fordere daher von der neuen Landesregierung „ein deutliches Bekenntnis auch zur kostenfreien rhythmisierten Ganztagsschule, um die Chancengerechtigkeit von Kindern zu erhöhen und schulisches Scheiter zu reduzieren im Interesse aller“.

„Lehrerbildung: Schlüssel für gute Schulen“

Eine Reform der Lehrerbildung hat für die Koalition „großes Gewicht“. Dazu gehören „ein breit angelegter Dialog über die Ausgestaltung des universitären Teils“, mit Blick auf „pädagogische Entwicklungen“, wie beispielsweise den „Wandel von der Halbtags- zur Ganztagsschule oder die Herausforderungen der Inklusion“. Das seit Jahren von Regierung und Opposition diskutierte Praxissemester soll für den Start „zum Wintersemester 2015/16 überarbeitet und optimiert werden“. (S.35)

Da die Grünen in ihrem Wahlprogramm über eine Strukturreform ohnehin nur mit allen Beteiligten reden wollten und keine eigene Position bezogen, war es wohl in den Koalitionsverhandlungen einfach, die Strukturfrage (Schulform- oder Stufenbezug) gar nicht erst zu behandeln.

„Schulfrieden erreichen: Angebot an alle“

Wie schon vor der Wahl angekündigt, wollen die Grünen, jetzt im Bunde mit der CDU, Schulfrieden stiften, nachdem „jahrzehntelang“ „in Hessen ein unproduktiver und ideologisch aufgeladener ‚Schulkampf’ geführt“ worden sei, - „mit der Folge, dass unser Schulsystem permanent umgekrempelt wurde“. Dieser Satz, von der hessischen CDU mitunterschrieben oder vielleicht sogar in den Vertrag hineinformuliert, hat es in sich. Der „jahrzehntelang“ „ideologisch aufgeladene ‚Schulkampf’“ war im Wesentlichen ein Kampf der CDU gegen die von einer SPD-geführten Landesregierung in den 1970er Jahren eingeführten Gesamtschule, die bis in jüngste Tage als „Einheitsschule“ oder gar als „sozialistische Einheitsschule“ diffamiert und in ihrer Entwicklung behindert wird.

In der Vereinbarung, die die Grünen mit der CDU getroffen haben, wird also ein Friedensangebot an alle gemacht, nachdem es vor der Wahl nicht einmal zwischen SPD und Grünen gelungen ist, einen schulpolitischen Kompromiss auszuhandeln. Den Friedensprozess will die Koalition damit beginnen, dass sie „alle an Schule Beteiligte sowie die Fraktionen im Landtag zu einem Bildungsgipfel“ einlädt, „um mit ihnen eine Vereinbarung über die Schulentwicklung in Hessen für die nächsten zehn Jahre zu erreichen“. (S.29) Welche Chancen gibt es für eine solche Vereinbarung zum gegenwärtigen Zeitpunkt?

Wenn die CDU, von den Grünen gedrängt, ihren Kampf gegen die Gesamtschule und das gemeinsame Lernen über die Grundschule hinaus beenden will, so wäre das ein gewichtiger Beitrag für einen Schulkompromiss in Hessen. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob das wieder von der CDU geführte Kultusministerium die Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag auch umsetzt, wenn es konkret um die Neugründung von Gesamtschulen geht, auch von kleinen zweizügigen bis Klasse 10, die dann mit andern Gesamtschulen oder mit G9-Gymnasien in der Oberstufe kooperieren könnten. Was soll in dieser erst einmal offenen Frage auf einem Bildungsgipfel zwischen Regierung und Opposition verhandelt und vereinbart werden, für zehn Jahre gar? Es gibt ja bereits einen Konsens insoweit, als bislang schon Eltern, Schulen und Schulträger vor Ort entscheiden, welche Schule sie wollen, auch wenn unter der CDU-Alleinregierung und unter Schwarz-Gelb immer wieder dagegen verstoßen wurde, wenn es dabei um die Neugründung von Gesamtschulen ging.

In den übrigen Themenbereichen, G8/G9, Inklusion, Ganztagsschule und Lehrerbildung, sind die Positionen zwischen Schwarz-Grün und der SPD nicht erst durch den Koalitionsvertrag, sondern schon vor der Wahl so kontrovers, dass ein Bildungsgipfel, wenn er denn zustande kommt, dies wohl nur bestätigen kann. Über diese Themen muss im Interesse guter Lösungen für Kinder und Jugendliche, für deren Eltern, für Schulen und Kommunen weiter gestritten werden. Vereinbarungen zwischen Regierung und Opposition, auf zehn Jahre gar, brauchen, wie die Dinge in Hessen liegen, noch ihre Zeit. Vielleicht könnte die Regierung dem von Heike Habermann gemachten Vorschlag nähertreten, eine Enquete-Kommission einzusetzen, wie in Hamburg unter einer CDU-Alleinregierung, in der neben den Parteien jene zu Wort kommen, „die das Fachwissen und die Praxiskenntnisse haben“.

Eine Schlüsselrolle, das ist das Neue unter Schwarz-Grün in Hessen, nehmen in den künftigen schulpolitischen Auseinandersetzungen die Grünen ein, die vor der Wahl mit der SPD zusammen für einen Politikwechsel stritten und die sich nun an der Seite eines Partners wiederfinden, der unter der Regierung Koch und Bouffier bis zur bevorstehenden Wahl 2013, mit der CSU in Bayern zusammen, die letzte Bastion einer entschieden konservativen Schulpolitik verteidigte.

Letzte Aktualisierung: 01.02.2014