Prof. Dr. Valentin Merkelbach

Zum Schulsystem in Mecklenburg-Vorpommern seit der Wende

November 2016

Mecklenburg-Vorpommern war das einzige der fünf neuen Bundesländer, das nach der Wende mit dem traditionellen dreigliedrigen Schulsystem der alten Bundesländer aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium gestartet ist. Zugelassen, wenn auch kaum gefördert, waren auch Integrierte und Kooperative Gesamtschulen.1996 fusionierte die Hauptschule mit der Realschule zur „Regionalen Schule“. Zum Schuljahr 2006/07 gibt es eine „schulartunabhängige Orientierungsstufe“ in Klasse 5 und 6.

Regionale Schule

Die Regionale Schule, auf die sich eine CDU/SPD-Koalition verständigte, „bereitet ihre Schüler/innen auf das Wirtschafts- und Arbeitsleben vor und hilft unter anderem über die Berufsfrühorientierung bei der Berufswahl“. „Dazu dienen u.a. das Unterrichtsfach Arbeit-Wirtschaft-Technik/Informatik oder auch die Schulbetriebspraktika, die in den Klassen 8 bis 10 an insgesamt 25 Arbeitstagen durchgeführt werden.“ Nach Klasse 9 können die Schüler/innen die „Berufsreife“ erlangen und nach Klasse 10 die „Mittlere Reife“,die sie, mit einem „Gesamtprädikat 'befriedigend'“, berechtigt, die dreijährige gymnasiale Oberstufe oder ein „Fachgymnasium“ zu besuchen.

Für Schüler/innen der Regionalen Schulen und des Regionalschulteils der Kooperativen Gesamtschulen gibt es allerdings gleich mehrere Hürden zu überwinden, wenn sie die allgemeine Hochschulreife anstreben. Sie kommen aus einer Schule mit einem dezidiert berufsorientierten Curriculum mit entsprechenden Defiziten in Allgemeinbildung und wechseln in eine Schule mit dem Anspruch „einer vertieften und erweiterten allgemeinen Bildung“. Die Berechtigung ist auch nicht die bestandene Mittlere Reife, sondern „mindestens das Gesamtprädikat 'befriedigend' “. Da die dreijährige gymnasiale Oberstufe in Mecklenburg-Vorpommern mit Klasse 10 als „Einführungsphase“ beginnt, sind die Neuankömmlinge gezwungen, die 10. Klasse noch einmal zu absolvieren. (http://bildung-mv.de/schueler/schule-und-unterricht/schulerten/...)

Orientierungsstufe

In der Landtagswahl 1998 wurde die SPD zum ersten Mal nach der Wende stärkste Fraktion und koalierte zwei Legislaturperioden bis 2006 mit der damaligen PDS. Die Frage, wie es in Mecklenburg-Vorpommern zu mehr gemeinsamem Lernen über die Grundschule hinaus kommen könne, führte in der neuen Regierung nicht zu einer verstärkten Förderung der Integrierten Gesamtschule, was mit dem neuen Koalitionspartner PDS möglich gewesen wäre, sondern zu dem Kompromiss einer „schulartunabhängigen Orientierungsstufe“ in den Klassen 5 und 6. Der Kompromiss wurde auch nicht bald nach Antritt der neuen Regierung umgesetzt, sondern erst zum Schuljahr 2006/07, das heißt mit dem Beginn einer neuen Koalition aus SPD und CDU, die bis zur Landtagswahl 2016 Bestand hatte.

„Schulartunabhängig“ bedeutet konkret, dass alle Schüler/innen nach der Grundschule in die Regionale Schule bzw. in den Regionalschulteil der Kooperativen Gesamtschule gehen. Am Ende von Klasse 6 erhalten die Eltern „eine Empfehlung zur weiteren Schullaufbahn ihrer Kinder“ und sie können sich entscheiden für Gymnasium, Gesamtschule oder für den Verbleib auf der Regionalen Schule. Eine Empfehlung fürs Gymnasium ist allerdings gebunden an einen Notendurchschnitt, der in Mathematik, Deutsch und in den beiden Fremdsprachen besser sein muss als 2,5. Melden Eltern ihr Kind ohne diese Voraussetzung an einem Gymnasium an, muss das Kind ein Probehalbjahr absolvieren.

Das Gymnasium und der gymnasiale Zweig der Kooperativen Gesamtschule beginnen erst ab Klasse 7. Nur die Integrierte Gesamtschule umfasst die Klassen 5 bis 10 oder 5 bis 12, wenn sie eine eigene gymnasiale Oberstufe hat. An der IGS können die Abschlüsse Berufsreife, Mittlere Reife und die Allgemeine Hochschulreife erworben werden. Die Schüler/innen werden „unabhängig von ihren Leistungen gemeinsam unterrichtet“ und erst ab Klasse 7 erfolgt „in den Hauptfächern eine Differenzierung nach Lernvoraussetzungen“.
(http://bildung-mv.de/schueler/schule-und-unterricht/schularten/...)

Ein „Stillhalteabkommen“ zwischen SPD und CDU

2007 erschien ein Beitrag von Heike Polzin, der bildungspolitischen Sprecherin der SPD-Fraktion im Landtag, unter dem Titel „Einführung des längeren gemeinsamen Lernens (LGL) in Mecklenburg-Vorpommern zum Schuljahr 2006/2007“ (in: Länger gemeinsam Lernen! Dokumentation einer Tagung des Landesbüros Thüringen der Friedich-Ebert-Stiftung am 8.und 9.Juni 2007, S.82-90). Heike Polzin schildert die Widerstände der CDU gegen das gemeinsame Lernen, seit die SPD 1998 stärkste Fraktion im Landtag wurde und zunächst mit der damaligen PDS als Juniorpartner koalierte. Nach der Einigung der neuen Regierung auf die Einführung einer Orientierungsstufe habe, so Polzin, „die nächste Etappe der Schulentwicklung auf der Tagesordnung“ gestanden, zumal „die Hälfte der Regionalschulstandorte“ gefährdet war und „die öffentliche Diskussion und die Schulträger neue Lösungen“ forderten. Als es nach der Landtagswahl 2006 erneut zu einem Regierungswechsel aus SPD und der CDU als Juniorpartner kam, sei zwischen beiden Parteien „ein Stillhalteabkommen festgeschrieben“ worden, das Heike Polzin so zusammenfasst: „Das gemeinsame Lernen bis zur 6 Klasse bleibt, doch weitere Schritte bis zur Klasse 8 sind mit der CDU nicht denkbar.“ (S.90)

Im Koalitionsvertrag von 2011, dem dritten zwischen SPD und CDU seit 2006, steht die Ankündigung, dass im Rahmen eines „Schuldialogs“ zu prüfen sei, „ob eine Ausweitung des längeren gemeinsamen Lernens für eine positive Weiterentwicklung von Schule sinnvoll“ sei (S.35). Und an anderer Stelle heißt es: „Damit im ländlichen Raum der Zugang zur gymnasialen Bildung gewährleistet werden“ könne, müsse „dort die Bildung von Schulzentren in Betracht gezogen werden“ (S.37). Wer aber soll denn im ländlichen Raum „gymnasiale Bildung“ gewährleisten, wenn nicht Kommunen ermuntert und unterstützt werden, Integrierte Gesamtschulen einzurichten, über die wenigen hinaus, die es im Lande gibt?

Wie wenig Integrierte Gesamtschulen es gibt, zeigt die „Schulstatistik der Länder“. Da ist in Mecklenburg-Vorpommern die IGS 1991 mit 6898 Schüler/innen gestartet und erfuhr bis 1996 eine Steigerung auf 8170. Danach ist die Zahl der Schüler/innen von Jahr zu Jahr weniger geworden. 2015 werden nur noch 4404 Schüler/innen an Integrierten Gesamtschulen unterrichtet. Die stark berufsorientierte Regionale Schule hingegen, seit 2002 in der „Schulstatistik der Länder“ geführt, ist mit 5761 gestartet und kommt 2015 auf 39529 Schüler/innen. Das ist die Bilanz vor allem der einstigen Gesamtschulpartei SPD, die seit 1998 die Regierung führt.

Zur wenig konkreten Ankündigung im Koalitionsvertrag von 2011, erst einmal in einem „Schuldialog“ prüfen zu wollen, ob „eine Ausweitung des längeren gemeinsamen Lernens“ überhaupt sinnvoll ist, passt dann auch, wenn in einer Pressemeldung vom Oktober 2014 der SPD-Kultusminister, Mathias Brodkorb, zu der Einsicht gelangt: In der Öffentlichkeit werde „seit Jahren fast ausnahmslos über Strukturreformen, Klassengrößen und Bildungsausgaben gestritten“, die Hattie-Studie jedoch zwinge „uns alle, dass wir uns auf das wirklich Wesentliche konzentrieren: auf die Lehrerinnen und Lehrer und auf die Qualität ihres Unterrichts“ (bildungsklick/ 22.10.2014).

Es ist dies das alte Spiel eben nicht nur konservativer Schulpolitik zu suggerieren, Unterrichtsreformen seien unabhängig von einer Reform des Systems und seiner in hohem Maße sozialen Auslese zu betreiben.

Neues Gesetz über das Lehramtsstudium

Am 25.11.2014 erscheint, neu gefasst, das „Gesetz über die Lehrerbildung in Mecklenburg-Vorpommern“. Zur Dauer der Lehramtsstudiengänge heißt es darin: „Die Regelstudienzeit, innerhalb derer das Studium abgeschlossen sein soll, umfasst für das Lehramt an Grundschulen und für das Lehramt für Sonderpädagogik neun Semester, für alle anderen Lehrämter zehn Semester.“ „Die Ausbildung erfolgt lehramtsbezogen.“ (§5 Lehramtsstudiengänge).

Geändert hat sich gegenüber der vorhergehenden Fassung des Gesetzes, dass die Ausbildungsdauer des Lehramts an Regionalen Schulen dem gymnasialen Lehramt angepasst wurde. Damit wird eine Diskriminierung der Arbeit an Regionalen Schulen, aber auch an Gesamtschulen, vermieden, wo eine stärker heterogene Schülerschaft unterrichtet wird als an Gymnasien, die nach Klasse 6 mit einer besonders ausgelesenen Schülerschaft starten.

Der kleine, aber feine Unterschied, statt zehn, nur neun Semester für das Lehramt an Grundschulen und für Sonderpädagogik ist von der Komplexität der Arbeit her nicht mehr begründbar und hat, wie auch in zahlreichen anderen Bundesländern, wohl mehr mit Fragen der Besoldung als mit Pädagogik und Belastung zu tun.

Die Parteien vor der Wahl 2016

Regierung

Das „Stillhalteabkommen“ in der Schulstrukturfrage, das SPD und CDU 2006 vereinbart haben, soll offensichtlich, wenn die Landtagswahl dies zulässt, in einer weiteren Legislaturperiode gelten. Für die SPD wird es nach ihrem Wahlprogramm „keine Experimente“ geben, „sondern die Fortsetzung bewährter und gemeinsam verabredeter Wege zu einer besseren Schule für alle Kinder und Jugendlichen“. (S.26) Was das konkret heißt, steht im Wahlprogramm der CDU, indem sie fordert, „dass das Gymnasium als Schulart erhalten bleibt, weitere fruchtlose Strukturdebatten unterbleiben und endlich Kontinuität in das Leben von Lehrern und Familien einzieht“. „Die jetzige Schulstruktur aus Grundschulen, Regionalen Schulen, Gymnasien und Gesamtschulen“ habe „sich bewährt“ und müsse „erhalten bleiben“. (S.18 f.)

Opposition

Die Opposition aus Linkspartei und Grünen hat kein alternatives Strukturkonzept zur Regierung. Die Linke will allerdings die Schulpflicht ausweiten und fordert „für jede Schülerin und jeden Schüler die Einführung einer zehnjährigen Schulpflicht“ (Wahlprogramm, S.13), und „nicht hinnehmbar“ ist für die Partei auch, „dass Lehrkräfte nach dem Alter der Kinder vergütet werden“. „Die Arbeit jeder Lehrerin und jedes Lehrers“ sei „gleich viel wert“ und müsse „auch gleichwertig vergütet werden“, was natürlich eine gleichlange Ausbildung für alle Lehrämter, auch für das Lehramt an Grundschulen und für Sonderpädagogik, zur Folge haben muss. Die Linke fordert darum „eine Stufenlehrerausbildung, die dem Entwicklungsalter der Schülerinnen und Schüler angepasst ist, anstelle der Trennung durch Schularten“. (S.14)

Stillstand für weitere fünf Jahre?

Nach der Landtagswahl im September 2016, bei der die Grünen den Einzug in den Landtag verfehlten und die CDU hinter der AfD drittstärkste Fraktion wurde, gab es für die SPD die Möglichkeit mit der CDU oder der Linkspartei zu koalieren. Sie entschied sich für eine dritte Koalition mit der CDU und vereinbarte mit ihr im Koalitionsvertrag, was sie schon in ihrem Wahlprogramm ankündigte: „Mit SPD und CDU wird es keine Experimente, sondern die Fortsetzung bewährter und gemeinsam verabredeter Wege zu einer besseren Schule für alle Kinder und Jugendlichen geben.“ (S.40) Selbst von einem im Koalitionsvertrag von 2011 angekündigten „Schuldialog“, der über „eine Ausweitung des längeren gemeinsamen Lernens“ befinden soll, ist diesmal keine Rede mehr.

Auch außerparlamentarischen Protest gegen das inzwischen zehnjährige „Stillhalteabkommen“ in der Schulstrukturfrage scheint es in Mecklenburg-Vorpommern kaum zu geben. Selbst die GEW, größte Interessenvertretung der Lehrer/innen im Lande hat andere Sorgen. In ihrem „Forderungskatalog“ zu den Koalitionsverhandlungen geht es bei der Schulpolitik um „Arbeitszeit“, „Eingruppierung und Besoldung“ und, bei der Umsetzung von Inklusion, um „Bereitstellung von 'Innovationsressourcen'“.

Auf Anfrage, warum die Integrierte Gesamtschule in Mecklenburg-Vorpommern für Eltern so wenig attraktiv ist, hat die GEW nicht geantwortet. Auch von der „Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule“ (GGG) erfuhr ich lediglich, dass Gesamtschullehrer/innen aus Bremen nach der Wende Kontakte knüpften zu Lehrer/innen an neu gegründeten Gesamtschulen in Mecklenburg-Vorpommern. Diese Kontakte hielten aber nicht lange und die GGG im Lande hat sich aufgelöst.

Wie aber soll sich am selektiven Schulsystem des Landes etwas ändern, wenn zwei so wichtige Akteure für längeres gemeinsames Lernen wie GEW und GGG ausfallen, die in anderen Bundesländern Bündnisse für eine inklusive Schule organisieren. In dem oben zitierten Bericht von Heike Polzin heißt es, dass schon 2007 „die Hälfte der Regionalschulstandorte“ gefährdet waren und „die öffentliche Diskussion und die Schulträger neue Lösungen“ forderten.

Es fehlt nach zwei SPD/CDU-Koalitionen ein schulpolitisches Konzept, wie es in Thüringen und in Sachsen-Anhalt die SPD als Juniorpartner mit der CDU vereinbart hat: eine Gemeinschaftsschule mit gymnasialen Standards bis mindestens zum Ende von Klasse 10, wenn möglich mit eigener Oberstufe oder im Verbund mit anderen Schulen. Zu dieser Schule können sich die bestehenden Schulen hin entwickeln, wenn das vor Ort, von einer Schule, den Eltern und dem Schulträger, beschlossen und beantragt wird.

Gemeinschaftsschule – das wäre in Mecklenburg-Vorpommern ein Neuanfang für längeres gemeinsames Lernen über Grundschule und Orientierungsstufe hinaus. Die neue Schulform wäre sicher weniger ein Angebot an Gymnasien als an berufsorientierte Regionale Schulen, um gerade im dünnbesiedelten ländlichen Raum alle Abschlüsse bis zur Allgemeinen Hochschulreife anzubieten. Ja, es könnten zur Sicherung von Standorten Gemeinschaftsschulen geben von 1 bis 10 bzw. bis 12/13, wie das in Berlin mit wachsendem Erfolg möglich ist.

Eine solche, eher bescheidene Strukturreform wäre für die SPD spätestens nach der Wahl 2016 mit einer stark gebeutelten CDU als Juniorpartner möglich gewesen, zumal es für die Partei eine zweite Koalitionsoption gab und nach wie vor gibt. Sie müsste es nur wollen.

 

Letzte Aktualisierung: 17.11.2016